Es sei aus gegebenem Anlass noch einmal an den legendären Moment erinnert, als Jimmy Connors im Achtelfinale der US Open 1991 den Schiedsrichter beschimpfte, ohne auch nur ein Schimpfwort zu gebrauchen. Er sagte "goddarn" und nicht "goddamn", "bullcrap" anstelle von "bullshit" und "butt" statt "ass". Es ging, klar, um eine fragwürdige Entscheidung, wie bei allen unvergessenen Ausrastern der Tennisgeschichte, von John McEnroe ("Are you serious?"), Ilie Nastse ("Bist du blind?") und Daniil Madwedew, der einem Referee mal Münzen vor die Füße warf als Hinweis, dass er ihn für einen Betrüger halte. Nur: Die Zeiten der gepflegten Ausraster sind vorbei, bei den US Open gibt es wie schon im vergangenen Jahr keine Linienrichter mehr - alle Entscheidungen übernimmt die Hawkeye-Technik.
Nur: Ist das System wirklich unfehlbar, wie es heißt? Die Spieler scheinen ihre Zweifel zu haben, es gab doch einige - auch hitzige - Debatten in der ersten Turnierwoche. Belinda Bencic, Gaël Monfils, Diego Schwartzman und Carlos Alcaraz beschwerten sich heftig, andere wunderten sich nur - denn was sollten sie auch tun? Eine Wiederholung auf den Großleinwänden bestätigt ja nur die erste Entscheidung - selbst wenn da "Close Call" zu lesen ist; es gibt keine Möglichkeit, sie zu ändern.
Genau das war ja das Faszinosum nach der flächendeckenden Einführung im März 2008: Es machte die Suche nach den Besten ein wenig gerechter, und es sorgte für zusätzliche Spannung, wenn ein Ballwechsel nachträglich entschieden wurde und sowohl Spieler als auch Zuschauer gebannt auf die Bildschirme starrten. Das ist vorbei. "Man kann nicht mehr debattieren - sonst denken alle: Die spinnt doch", sagt Bencic.
Die Fehlermarge liegt offiziell bei maximal fünf Millimetern
Und doch gibt es im Tennis eine Debatte um den Debatten-Beender, sie dreht sich gar nicht mal so sehr um die Präzision der Technik - die zweifelt kaum einer an, und jeder weiß, dass auch dem elektrischen Adlerauge Fehler passieren, wenn auch nicht so viele wie dem Menschen. Die Fehlermarge liegt offiziell bei maximal fünf Millimetern; einer langfristigen Studie zufolge sind es durchschnittlich nur 2,5 Millimeter.
Der Kern der Unzufriedenheit hat mit etwas anderem zu tun. Gehörte es nicht zur Struktur dieser Disziplin, machte es diesen Sport nicht so interessant, weil ab und zu jemand debattierte? Videos mit den krassesten Ausrastern werden auf Youtube mindestens so häufig angesehen wie die mit den tollsten Schlägen. Und: Viele Spieler debattierten ja nicht nur, weil sie eine Fehlentscheidung der Linienrichter vermuten, sondern deshalb, um sich mal gepflegt aufzuregen und Druck abzulassen - lieber sauer auf den Schiedsrichter sein als auf sich selbst. Bencic etwa sagt: "Viele glauben, es raube einem Energie. Bei mir ist es so, dass ich daraus Energie ziehe."
Wie einst McEnroe oder auch Connors: Über diese Partie 1991 sagte der frühere amerikanische Tennisprofi Aaron Krickstein ein paar Jahre später, dass er im Moment des Ausrasters von Connors im Tie-Break des zweiten Satzes schon wusste, dass es ein sehr langer Nachmittag werden würde.
2019 gab es noch Linienrichter, und die kosteten den US-Verband inklusive Kost und Logis insgesamt 500 000 US-Dollar. Es mag kostengünstig sein, effizient und gerecht, doch wenn die ersten Tage bei den US Open eines gezeigt haben: Dem Sport werden ein paar der erinnerungswürdigsten Moment geraubt. Doch keine Sorge, es wird nicht überall so sein. Die French Open in Paris verzichten komplett auf die Technik, auf Sand gibt es ja den Ballabdruck; und in Wimbledon wird das alte System mit Linienrichter und Videobeweis verwendet. Es wird wahrscheinlich keinen McEnroe-Ausraster mehr geben ("chalk flew up"), aber immerhin einige spannende Momente mehr als bei den US Open.
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