Dieser erste Versuch! Armand Duplantis windet sich über die Latte, die auf die Höhe von 6,19 Metern aufgelegt ist, so leicht, wie nur er es kann. Er ist bereits auf der anderen Seite, die Augen weit aufgerissen, bereit, sich in die Aufsprungmatte fallen zu lassen, da touchiert er mit dem Oberkörper leicht die Stange, erst in der Zeitlupenwiederholung ist es überhaupt zu sehen.
Die Latte, sie kommt ins Wackeln, wirkt lebendig: Sie scheint sich fast zu überlegen, was sie tun soll. Dann entscheidet sie sich doch noch zum Fall, und der nächste Weltrekord des 21-jährigen Schweden muss noch ein paar Wochen warten.
Der Rekord, er war ganz nah. Er fiel dann doch nicht, aber eine Show war es doch wieder, dieser Auftritt des neuen Superstars der Leichtathletik. Die Goldmedaille hatte Duplantis da schon längst sicher, die Konkurrenz feuerte ihn bei seinem Rekordversuch an. Alle standen sie Spalier, klatschten ihm Beifall: Christopher Nilsen, der zweitplatzierte US-Amerikaner, der mit einer übersprungenen Höhe von 5,97 Meter Duplantis zumindest ein bisschen reizen konnte. Titelverteidiger Thiago Braz aus Brasilien, der sich Bronze sicherte. Und die beiden Deutschen Oleg Zernikel und Bo Kanda Lita Baehre, für die 5,80 Meter an diesem Tag zu hoch war. Vor allem aber Renaud Lavillenie. Sozusagen der Vorgänger von Duplantis als Dominator der Szene.
Der inzwischen 34-jährige Franzose weiß, wie das ist, wenn man am Ende des Abends nur noch einsam einen Wettkampf bestreitet. Vor zehn Jahren war er der Star, hielt die Weltrekorde, feierte den Olympiasieg 2012 in London. Der Teenager Duplantis hatte damals ein signiertes Poster von Lavillenie an der Wand hängen. Er sagte später, er wolle so fliegen wie er. So haben sich die Verhältnisse geändert.
Auf den harten Stadionboden geknallt
Noch immer wäre er eigentlich einer der größten Konkurrenten von Duplantis, aber an diesem Tag wurde der Wettkampf zu seinem persönlichen Drama. Bereits vor zwei Wochen war Lavillenie in der Vorbereitung schmerzhaft umgeknickt, hatte sich die Bänder im Sprunggelenk gezerrt. Und nun, am Dienstag in Tokio, knallte der Franzose beim Einspringen aus fünf Metern Höhe statt auf die weiche Matte auf den harten Stadionboden, nachdem er den Absprung beim Probeversuch verpatzt hatte.
Renaud Lavillenie: Der Verzweiflung nah
Foto: Matthias Schrader / APDanach quälte sich Lavillenie durch den Wettkampf, sprach immer wieder mit den Trainern, unterhielt sich auch wiederholt mit Duplantis, kämpfte zwischendurch mit den Tränen vor Schmerz und Enttäuschung. Man mochte es kaum mitansehen.
Trotzdem versuchte er sein Bestes. Aber bis auf einen gelungenen Sprung über 5,70 Meter kam nichts heraus. Lavillenie kam als Achter ins Klassement. In drei Jahren sind die Sommerspiele in Paris, in seiner Heimat. Ob er es dann mit 37 noch einmal schaffen wird, ist völlig offen.
Ohnehin hätte er an diesem Tag schon in absoluter Topform sein müssen, um Duplantis nur annähernd zu gefährden. Da auch der andere Hauptrivale des Schweden, der Weltmeister Sam Kendricks, wegen eines positiven Coronatests als Konkurrenz ausgefallen war, gab es über die Goldmedaille ohnehin nicht viel zu diskutieren. Fünf Sprünge brauchte Duplantis, um sich das ersehnte Gold zu holen, fünfmal nahm er die Höhen im ersten Versuch, 5,55 – 5,80 – 5,92 – 5,97 – 6,02 Meter, danach blieb ihm nur noch der Weltrekordversuch.
Schon 20 Mal über die sechs Meter
Viermal ist der Sohn eines US-amerikanischen Vaters und einer schwedischen Mutter in dieser Saison bereits über die 6-Meter-Marke gesprungen, oder besser: geflogen. Insgesamt hat er das schon 20 Mal geschafft. In der Halle hat er im Vorjahr in Glasgow bereits 6,18 Meter überquert, das gilt als offizieller Weltrekord auch im Freien, wo er bisher 6,15 Meter gemeistert hat, auch das in der Vorsaison, in Rom. Vor fünf Jahren im Alter von 16 tauchte er bei den Junioren auf und vernichtete dort bereits einen Rekord nach dem anderen. Schon zwei Jahre später lag er bei übersprungenen 5,90 Metern. Lavillenie hat das erstmals mit 22 geschafft, der legendäre Sergej Bubka mit 21. Duplantis mit 18.
Bubka, Mister Stabhochsprung, hat in seiner langen glorreichen Laufbahn 35 Mal den Weltrekord verbessert, in der Halle und im Freien. Davon ist Duplantis noch entfernt, aber wer gesehen hat, wie er über die 6,02 Meter gegangen ist, wie viel Luft sich zwischen Körper und Latte dort noch ausbreiten konnte, der weiß: Dieser junge Schwede ist noch lange nicht am Ende seiner Möglichkeiten angekommen.
Mit dem Erscheinen von Duplantis auf der Bildfläche muss man über Höhen von 6,20 Metern bis 6,30 Metern nachdenken. Wenn er in dieser Sportart, die Verletzungen fast provoziert, fit und gesund bleibt, dann kann man sich nicht vorstellen, wer ihn in den nächsten zehn Jahren gefährden sollte.
Obwohl: Die Familie Duplantis hat vier Kinder, Armand, Andreas, Antoine und Johanna. Alle vier betreiben Stabhochsprung.
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