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Sie nennen sich die Abbatare - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

In „Don’t Shut Me Down“, einem der Lieder auf dem 2021 nach einer Pause von vierzig Jahren lancierten jüngsten Abba-Album steht eine Frau plötzlich bei ihrem ehemaligen Liebhaber auf der Matte und erzählt ihm, wie sie sich verändert hat, seitdem die Beziehung in die Brüche ging. Mit Begriffen aus der Computersprache versucht sie, ihn zu einem Neuanfang zu überreden: „And now you see another me, I’ve been reloaded. I’m fired up, don’t shut me down. I’m like a ­dream within a dream that’s been decoded.“ So, wie diese Frau sich ihrer Ex-Liebe als eine andere präsentiert als die, die sie einmal war, tritt die schwedische Popband jetzt dank digitaler Technik in neuer alter Frische vor ihr Publikum, um da weiterzumachen, wo sie vor einem halben Menschenleben aufgehört hatte.

Bloß, dass die Zeit nur für ihre computer­generierten Alter Egos zurückgedreht worden ist. Dagegen ist ein Großteil der dreitausend Menschen, die für „Abba Voyage“ in die futuristische Abba Arena im Osten Londons gepilgert ist, um mit den virtuellen Verkörperungen vom Agnetha Fältskog, Anni-Fri Lyngstad, Benny Andersson und Bjoern Ulvaeus ihre Jugend wieder zu erleben, faltig, grau und speckig geworden. Die Siebziger-Jahre-Modestücke, die viele aus dem Kleiderschrank ausgegraben haben, sitzen nicht mehr so ganz. Und bei den Schlaghosen und Paillettenminikleidern vom Kostümversand verraten die Rettungsringe, dass Wunschdenken mitunter über die Realität gesiegt hat. Aber das tut der Stimmung keinen Abbruch.

Auch in der sechseckigen Brettstapel-Konstruktion von Stufish, einem durch spektakuläre Bühnenbilder für Bands wie die Rolling Stones, Pink Floyd und Queen bekanntgewordenen Unterhaltungsarchitekturbüro, auf einem Busparkplatz des Olympiageländes gilt es, die Grenzen der Realität zu überwinden und sich auf Illusion einzulassen. Um das zu erreichen, haben mehr als tausend Techniker unter der Anleitung des Effektzauberunternehmens des „Star Wars“-Produzenten George Lucas angeblich eine Milliarde Programmierstunden abgeleistet.

Fünf Wochen lang schlüpften die inzwischen alle in die Siebziger gekommenen Abba-Mitglieder täglich in mit Sensoren übersäte Ganzkörperanzüge, damit jede Geste und alle Mimik mit 160 Kameras von jedem erdenklichen Winkel aus erfasst werden konnten. Diese Daten wurden dann zur Erstellung glaubhaft verjüngter „Abba­tare“, wie die digitalen Inkarnationen ge­nannt werden, mit Aufzeichnungen der Bewegungen jüngerer Doppelgänger verschmolzen. In der verdunkelten Arena bringt sie nun das größte Projektionssystem der Welt mit einer Megaauflösung von 65 Millionen Pixeln auf einen die ganze Breite des Raumes füllenden Bildschirm: faltenlos und ohne Schweißperlen, wie vor allem auf den gewaltigen Vergrößerungen links und rechts der Bühne zu erkennen ist. Aber sonst verblüffend lebensecht. Das Spektakel wird sieben Mal in der Woche in der temporären Arena dargeboten. Weitere Standorte sind bereits im Gespräch.

Sein oder Nichtsein ist jetzt nicht mehr die Frage

Wenn die vier Musiker am Anfang wie aus der Unterbühne hochgefahren werden, zeichnen sie sich als geisterhafte schwarze Silhouetten gegen den Hintergrund ab, bevor ihnen die Farbenpracht der digitalisierten Phoenix-Kostüme von Dolce und Gabbana konkretere Form verleihen. Bestärkt durch die sphärischen Klänge des Auftakts zu „The Visitors“ aus dem gleichnamigen Album von 1981, soll wohl eine Art von Auferstehung oder Erscheinung von Außerirdischen suggeriert werden. Kos­mische Motive und humorvolle An­spielungen aufs High-Tech-Illusionstheater durchziehen denn auch die neunzig Minuten dauernde Show, die ihre immersive Wirkung nicht zuletzt durch extravagante Beleuchtung erzeugt. „Chiquitita“ wird vor einer postkartenschönen Mondfinsternis vorgetragen. Regenbogenfarbene Lichterketten sinken von der Decke herab, Strahlen tanzen durch den ganzen Saal und Ufos ähnliche Scheiben drehen sich in verschiedenen Formationen. Monumentale Lichtsäulen erinnern an die Ausstattungen von Hitlers Architekten Albert Speer, den Meistermanipulator der Massen, den es ehedem „merkwürdig“ berührte, „dass die gelungenste architektonische Schöpfung seines Lebens eine Chimäre“ gewesen sei, „eine immaterielle Erscheinung“.

Als solche tritt auch Benny Andersson in seiner heutigen Gestalt nach dem zweiten Lied vor die Menge und witzelt, er käme sich vor, wie der zeitreisende Dr Who aus der gleichnamigen Science-Fiction-Serie. Er behauptet, „das wahre Ich“ zu sein, das bloß für sein Alter gut aussehe, und bringt das durch die Präsenz einer Live-Band mit zehn Musikern gesteigerte Verwirrspiel zwischen Wirklichkeit und Illusion mit der Pointe auf den Punkt, dass Sein oder Nichtsein jetzt nicht mehr die Frage sei. Seine Anmoderation von „S.O.S“, dem ersten all der alten Nummern, die das elektrisierte Publikum in rauschhafte Verzückung versetzen, ist nur eine von mehreren persön­lichen Einlassungen mittels derer die Bandmitglieder der Veranstaltung den improvisierten Charakter eines Spektakels in Echtzeit verschaffen wollen.

Von der ersten bis zu letzten Minute vom Stuhl gerissen

Anni-Frid Lyngstad erklärt unter tosendem Jubel, dass sie die vor Polarlichtern gesungene Schulze „Fernando“ ihrer Großmutter und allen Frauen widme. Als der Saal danach dunkel wird, entschuldigt die Stimme von Andersson dies mit einem Kostümwechsel. Dabei gibt er vor, mit seinem im Ärmel verfangenen Arm zu fuchteln, bevor die Lichter wieder angeschaltet werden für „Does Your Mother Know“. Dass dieses Lied über den Flirt mit einem jungen Mädchen nicht von Abba, sondern von der Band aufgeführt wird, nimmt ihm etwas von seinem heiklen Charakter. Damals sei er nicht verheiratet gewesen, oder vielleicht doch, erinnert sich Andersson. Zwischendurch werden „Eagle“ und „Voulez-vous“ gespielt – vor dem Hintergrund einer Fantasy-Animation mit einer Reise über die Gipfel der Welt ins All, die den Verdacht aufkommen lässt, sie werde eingeblendet, um das illusionistische Können der restlichen Schau zu unterstreichen.

Bei manchen Liedern wird die Fiktion einer Bühne allerdings aufgegeben. Die zerbrochenen Beziehungen, von denen „Knowing Me, Knowing You“ erzählt, werden kaleidoskopartig mit fragmentierten Aufnahmen der Band veranschaulicht, die sich dann zu einem versöhnlichen Ganzen zusammenfügen. Das Publikum lässt sich von der ersten bis zu letzten Minute vom Stuhl reißen. Wer wollte behaupten, dass die Aura eines Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit verloren ginge, wenn sich Menschen der Macht der Suggestion derart bereitwillig ergeben?

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