Der Sommer 1969 war vor allem für die USA einer der historischen Ereignisse: Die Welt schaute gebannt zu, als der Astronaut Neil Armstrong am 20. Juli als erster Mensch den Mond betrat. Einen Monat später staunte die Öffentlichkeit über ein popkulturelles Großereignis auf einer Wiese in Bethel, New York, zu dem rund 400.000 Hippies pilgerten und dort den Rock-Helden der Gegenkultur-Ära zujubelten. Der weißen Gegenkultur wohlgemerkt.
Für die afroamerikanische und hispanische Gemeinde Amerikas war das größte historische Event dieses heißen Sommers aber ein anderes: das Harlem Cultural Festival, das zwischen Juni und August an sechs Wochenenden mitten im afroamerikanisch geprägten Stadtteil von Manhattan veranstaltet wurde – kuratiert vom schwarzen Sänger und Entrepreneur Tony Lawrence, unterstützt vom liberalen weißen Bürgermeister von New York City, John Lindsay, bewacht von Milizen der Black-Panther-Partei, weil die Polizei sich weigerte, in dem Brennpunktkiez für Sicherheit zu sorgen.
Aktivistin und Grande Dame der R&B- und Jazzmusik: Nina Simone bei ihrem Auftritt in Harlem
Foto: Disney+Die Lage in der City war angespannt: In den Ballungszentren der USA kämpften Afroamerikaner Ende der Sechzigerjahre gegen Armut und Drogen, Kriminalität und bröckelnde Infrastruktur, auf politischer Ebene tobte eine zuweilen militante Auseinandersetzung über institutionellen Rassismus und Bürgerrechte. Die Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam heizten die Stimmung zusätzlich an. Ausschreitungen und Gewalt waren an der Tagesordnung.
Trotz der explosiven Lage wurde das Festival eine Folge von friedlichen, familienfreundlichen Open-Air-Konzerten, bei denen Soul- und R&B-Superstars wie Stevie Wonder, die Temptations und Nina Simone vor insgesamt rund 300.000 Besuchern auftraten – eine Atempause: Es war »wie ein riesiges Barbecue-Fest«, wie es einer der Besucher nennt, und gleichzeitig ein sinnstiftender Erweckungsmoment einer selbstbewussten und stolzen Black Culture.
Wie kommt es also, dass alle Welt Woodstock kennt, aber kaum jemand je vom Harlem Cultural Festival gehört hat, einem Ereignis von mindestens genauso großer popkultureller Bedeutung?
Einziger Musiker, der sowohl in Harlem als auch in Woodstock auftrat: Soul-Innovator Sly Stone
Foto: Disney+Die Liveaufnahmen vom Festival, die der Filmemacher Hal Tulchin mit einer kleinen Crew auf damals noch unorthodoxem Videomaterial machte, Kisten voller Bänder und Kassetten, lagerten fast 50 Jahre in seinem Keller. Niemand interessierte sich dafür. Während das Festival lief, zeigte ein New Yorker Lokalsender mehrfach Zusammenfassungen, aber für Filme und Dokumentationen ausgewertet wurden die Aufzeichnungen seitdem trotz vieler vergeblicher Anstrengungen Tulchins nicht. Bis jetzt.
Kurz vor seinem Tod im Jahre 2017 übergab Tulchin seinen Schatz an den Hip-Hop-Musiker und Pop-Intellektuellen Amir Thompson, der unter dem Namen Questlove bei der Rap-Gruppe The Roots die Drums spielt und die Studio-Band von Late-Night-Talker Jimmy Fallon leitet. Wie ein DJ kuratierte er aus dem Wust an Material einen sensationellen und sehr aufwühlenden Konzertfilm, sozusagen das »schwarze« Pendant zu Michael Wadleighs berühmter Woodstock-Doku. Er gewann damit den Publikumspreis und den Grand Prix der Jury beim diesjährigen Sundance-Festival. Ab diesem Freitag ist »Summer of Soul« beim Streamingdienst Disney+ zu sehen.
»Es ging nicht nur um die Musik«
Allein wegen der umwerfenden Musik-Performances lohnt sich das Anschauen: Stevie Wonder, der junge, blinde Motown-Star, der zu jener Zeit seine eigene musikalische Stimme und Identität entdeckte, eröffnet die Reihe nie zuvor gezeigter Auftritte mit einem furiosen Drumsolo. Soul-Sängerin Mavis Staples singt zusammen mit der Gospel-Ikone Mahalia Jackson den Lieblingssong des im Jahr zuvor ermordeten Martin Luther King, »My Precious Lord«. Nina Simone, die Grande Dame der R&B- und Jazzmusik, stellt ihre berührende Ballade »To Be Young Gifted and Black« erstmals der Öffentlichkeit vor, singt ihren gespenstischen »Backlash Blues« und rezitiert über treibenden Bongo-Beats ein wütendes Gedicht von David Nelson, Mitglied der radikalen Soulgruppe The Last Poets: »Are you ready to smash white things, to burn buildings, are you ready?«, ruft sie fünf Jahre nach den berüchtigten, gewalttätigen »Harlem Riots« in die Menge.
Die will jedoch lieber friedlich feiern. »Are you ready to build black things?« ist eine konstruktivere Botschaft aus Simones Sermon, die besser ankommt. »Wir wollten Fortschritt«, sagt die R&B-Sängerin Gladys Knight in einem Interview-Einspieler. »Etwas Wichtiges passierte in diesen Tagen. Es ging nicht nur um die Musik«. 1969 sei das ausschlaggebende Jahr gewesen, in dem das Wort »Negro« starb und »Black« geboren wurde, so der Reverend und Bürgerrechtler Al Sharpton.
Das Publikum zelebrierte dieses neue Selbstverständnis mit bunten afrikanischen Dashiki-Gewändern, stolzen, ungebändigten Afrofrisuren und Gospelgesängen. Der südafrikanische Jazz-Star Hugh Masekela trat ebenso auf wie der kubanische Perkussionist Mongo Santamaría. Das Festival in Harlem symbolisierte auch den Schulterschluss zwischen der afroamerikanischen und der puertoricanisch-kubanischen Bevölkerung New Yorks, die sich von der weißen Mehrheitsgesellschaft gleichsam marginalisiert fühlten. »Vergiss den Mond«, sagt einer der Festivalbesucher spöttisch im Film über die Apollo-Mission im All, »die sollen von der ganzen Kohle lieber etwas hierher leiten.«
Die Weltöffentlichkeit nahm keine Notiz von den Ereignissen in Harlem, die kulturelle Revolution wurde nicht landesweit im Fernsehen übertragen, wie es der New Yorker Musiker Gil-Scott Heron ein Jahr nach Harlem in einem seiner berühmtesten Songs zusammenfasste. »When the Revolution could not be televised« lautet auch der Untertitel, den Questlove seinem rund zweistündigen Film gab.
Der 50-Jährige, ein versierter Essayist und Kritiker im Bereich schwarzer Popkultur-Historie, ist noch immer fassungslos, dass selbst er lange Zeit nichts von dem Festival und seiner Bedeutung wusste. »Die Tatsache, dass 40 Stunden Filmmaterial der Öffentlichkeit vorenthalten wurden, ist der Beweis dafür, dass es Geschichtsrevisionismus gibt«, sagt Thompson in den Presseinformationen zum Film. Er wolle sicherstellen, »dass die Auslöschung der Schwarzen« zu seinen Lebzeiten nicht mehr stattfinde.
Schon jetzt erhalte er viele Nachrichten von Leuten, die ebenfalls im Besitz vergessener historischer Aufnahmen über schwarze Kultur seien. Die Geschichte des Harlem Cultural Festivals sei »nicht die einzige Story da draußen«, sagte der Regie-Debütant vor Kurzem in einer Zoom-Konferenz mit Journalisten, »vielleicht kann mein Film der Anfang eines Gezeitenwechsels sein, sodass diese Inhalte ans Licht kommen«. Er sei mehr denn je davon besessen, dass »Geschichte korrekt dargestellt wird«.
Das mag radikal klingen. Doch Questloves Film erscheint in einer Zeit, in der der Kampf der Afroamerikaner um gesellschaftliche Anerkennung kaum weniger erbittert geführt wird wie vor 50 Jahren: Trotz öffentlichkeitswirksamer Proteste gegen rassistische Polizeigewalt im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung und der Schaffung des landesweiten »Juneteenth«-Feiertags versuchen konservative US-Republikaner zurzeit, aufklärerische Errungenschaften wie den »Black History Month« an Schulen wieder zu nivellieren: Über die jahrhundertelange Sklaverei und Unterdrückung soll im Unterricht am besten gar nicht geredet werden.
Der einzige Musik-Act, der sowohl in Harlem als auch in Woodstock auftrat, war übrigens die damals revolutionäre und erfolgreiche Soul-Band Sly and the Family Stone (»Higher«), in der es, selten zu jener Zeit, auch weiße Mitglieder gab. Jimi Hendrix, einer der wenigen afroamerikanischen Künstler in Woodstock, wäre gern auch in Harlem aufgetreten, durfte aber nicht. Warum, das hat selbst Questlove bei seinem elektrisierenden Trip in den Soul-Sommer von `69 nicht herausfinden können.
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