Album der Woche:
»Du bist nur ein einfacher Junge aus Michigan«, sagte Scotty mit seiner sanften, traurigen Stimme einst zu John Grant und mahnte seinen Freund: »Die werden alles daran setzen zu gewinnen, also lass bitte niemals deine Deckung fallen, vielleicht kannst du dann eines Tages wieder hierher zurückkehren«. So episch, mit einem elektronisch flirrenden, Reise-ins-Wunderland-Intro zum Titelsong, beginnt das fünfte Solo-Album des US-Songwriters, das man retrospektiv wahrscheinlich mal als eines seiner wirkmächtigsten bewerten wird. Ein Schlüsselwerk.
Denn »Boy from Michigan« ist nichts Geringeres als genau die von seinem Jugendkumpel prognostizierte Rückkehr Grants zu den Orten und Traumata seiner Kindheit – natürlich in einer Form, die Grant seit seinem Abschied von der Dreampop-Band The Czars vor gut 15 Jahren immer weiter verfeinert und zur Meisterschaft gebracht hat: in humorvollen, melancholischen und elegischen Popsongs, aus denen süße Melodien fließen, aber auch ätzende Säure sickert.
Mit 52 Jahren ist der vollbärtige Barde ein erfolgreicher und gefeierter queerer Indie-Entertainer, ein Elton John des Pop-Untergrunds. Abgesehen von seiner vor einigen Jahren öffentlich gemachten HIV-Erkrankung, mit der er zu leben lernen musste, hat er das Gröbste hinter sich: Die Jugend als Sohn einer frommen Methodisten-Familie im erzkonservativen Mittelwesten, erst in Michigan, dann in Denver, Colorado. Die Schulhof-Bullys, später dann Alkohol- und Koks-Exzesse, der Umzug nach Europa zum Studium in Heidelberg, das späte Coming-out, die langen Jahre der Selbstzerstörung, die toxischen Männerbeziehungen, schließlich der Weg zur Heilung in seiner Wahlheimat Island.
Aus der emotionalen Festigung heraus rekapituliert Grant nun Stationen eines amerikanischen Albtraums: »The American Dream can cause scarring/ And some nasty bruising«, singt er, streift dann noch einmal über den Dorf-Jahrmarkt, als er sich fast in die süße Cindy verliebt hätte, dann aber doch nicht mit den anderen aufs Karussell durfte (»County Fair«). Er fährt im Geiste noch einmal an der gespenstischen rostigen Bullenskulptur vorbei, die den Eingang zu dem Schrottplatz markierte, den sein Vater oft besuchte (»Rusty Bull«) und sinniert einer signifikanten schwulen Avance im düsteren Art-déco-Schimmer eines »Cruise Room« nach.
Die Musik, die diesen erzählerisch grandiosen Aufarbeitungstrip begleitet, lässt sich Zeit für maximale Immersion, das ganze Album ist rund 75 Minuten lang: »The Rusty Bull«, wohl eine Meditation über seine lange unterdrückte Sexualität, beginnt mit einem langen, atmosphärischen Intro, das klingt, als hätte Grant Jan Hammers Titelmusik von »Miami Vice« samt markantem E-Drum-Motiv in Zeitlupe versetzt. Eine Neuerfindung seines zwischen Avant-Pop und Abba oszillierenden Sounds gibt es allerdings nicht. Produzentin Cate Le Bon polsterte Grant den futuristischen, manchmal ambient wabernden, oft technoid pulsierenden Yacht Rock mit Klarinetten und Saxofon zu voller Pracht und Reife aus. Vielleicht ist »Boy from Michigan« so etwas wie Grants modernistisch abstrahierte Antwort auf Elton Johns Opus Magnum »Goodbye Yellow Brick Road«, eines seiner erklärten Lieblingsalben.
Am Ende seiner Reise rechnet Grant in einer bitterbösen Pianoballade noch mit der Ära Trump ab, die er als nur folgerichtig für ein Land betrachtet, das nach den Regeln des Machismo, des Geldes und der Gier funktioniert: »The Only Baby (This Bitch Could Have)«. Danach erteilt die Hymne »Billy« dem destruktiven »cult of masculinity«, dem er selbst allzu lang anhing, eine leichthändige Absage.
Zwischendurch bleibt mehr als genug Zeit für Grants Faible, sperrigste Begriffe in eigentlich anschmiegsame Verse zu basteln. Am schönsten gelingt ihm das, der Titel verrät’s, im Devo-artigen »Rhetorical Figure«, das disruptive Sprachwissenschafts-Perlen wie Paraprosdokian, Aposiopese oder Antirrhesis enthält, und konjugiert deutsche Verben (»essen, aß, gegessen«). Dazu gibt’s onomatopoetischen Spaß wie »Thwap Splat Gurgle Gurgle«. Auf Russisch und mit allerlei technologischen Wort-Nebelkerzen umschreibt er dann in »Your Portfolio« seine wollüstige Bewunderung für das offenbar multifunktional ausgestattete Gemächt eines Lovers.
Diese rhetorische und künstlerische Verklausulierung ist schon lange John Grants selbst ermächtigter und ultimativ befreiender Weg, sich doch noch aus der lebenslangen Deckung zu trauen, hier tut er es mit erhobenem Kopf und offenem Herzen. Scotty wäre stolz. (8.5)
Kurz abgehört:
Lucy Dacus – »Home Video«
Auch die US-Songwriterin Lucy Dacus kehrt auf ihrem dritten Album an die Orte und Traumata ihrer christlich-repressiven Jugend in Richmond, Virginia, zurück. Erzählerisch wurde Dacus spätestens mit »Historian« zu einem der größten Americana-Talente seit Ryan Adams. Hier verfeinert sie ihre an James Taylor und Achtziger-Springsteen ebenso wie an Dinosaur Jr. geschulte Rockmusik mit Synthie-Akzenten und Diary-Pop, der Taylor Swift neidisch machen könnte (»Thumbs«, »Brando«). Und dann krachen wieder Gitarren in die Nostalgie wie Bildverzerrungen auf alten VHS-Tapes. (7.8)
Amythyst Kiah – »Wary & Strange«
Die 34-jährige Gitarristin aus Tennessee hat lange gebraucht, um ihre musikalische Identität zu finden, irgendwo zwischen dem Appalachen-Folk ihres Heimatdorfs, schwarzem Country-Blues und weißem Metal und Industrial. Acht Jahre nach ihrem eher traditionellen Debüt ermutigte sie Produzent Tony Berg (u.a. Phoebe Bridgers) zu einem selbstbewussten und elektrisierten Roots-Sound, der an Bettye Lavette ebenso anknüpft wie an Tracy Chapman. Für das explosive »Black Myself« gab’s bereits eine Grammy-Nominierung. Wir warten auf ein Duell/Duett mit H.E.R. (7.5)
Drunk At Your Wedding – »I Have To Go Home«
Romantik darf man hier nicht erwarten, auch wenn die LoFi-Musik der weit gereisten Berlinerin Nina Töllner oft sehnsüchtig nach altem Folk oder Kirchenliedern klingt, die Stimme nach Grace Slick, die Attitüde nach P.J. Harvey – und nicht zuletzt lieh sie ihren Bandnamen einem Song von Chef-Lakoniker Bill Callahan. Deshalb stören in ihren eigenen Liedern auch lästige Sandmücken den kitschigen Sonnenuntergang (»Sandflies«), es geht um Heuschnupfen (»Pollen«) und blutsaufende Geschäftsleute (»You_Me_Sufjan«). Schön trocken und scharf, wie Summer Wine. (7.0)
Sault – »Nine«
Achtung, dieses Album ist ab heute nur für 99 Tage verfügbar! Sagt zumindest das immer noch anonyme britische Musikerkollektiv Sault, das im vergangenen Jahr zwei tröstlich-tanzbare Soul-Soundtracks zur Black-Lives-Matter-Bewegung veröffentlichte. Auf dem fünften Album geht es mit etwas schrofferen Afro- und Trip-Hop-Elementen und Spoken-Word-Impressionen tief hinein in die schwarzen Hoods von London, in die Angst vor Polizei- und Gang-Gewalt. »Fear« deklamiert brutalistisch monoton: »The pain is real«, die R&B-Ballade »Alcohol« beklagt den Sieg des Suffs; Rapperin Little Simz macht sich in »You from London« mit mokanter Stimme über Getto-Touristen lustig. Am Ende beschwört diese wundersame Band im weit atmenden Titelstück die Hoffnung und das Ende der Dunkelheit. Vielleicht ist das die sogenannte Freedom Music, die man Sly and the Family Stone einst zuschrieb. Sault sind ihre modernen Erben. (8.0)
Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)
Mittwochs um 23 Uhr gibt es beim Hamburger Web-Radio ByteFM ein »Abgehört«-Mixtape mit vielen Songs aus den besprochenen Platten und Highlights aus der persönlichen Playlist von Andreas Borcholte.
https://ift.tt/3xT3h8B
Unterhaltung
Bagikan Berita Ini
0 Response to "Album der Woche mit John Grant: Gay in the U.S.A. - DER SPIEGEL"
Post a Comment