Es gab Zeiten, da wurden Schalker Tragödien von einer Form der Trauer begleitet, die man am ehesten als rein und unschuldig bezeichnen könnte. Die wohl berühmteste Szene stammt aus dem Jahr 1981 - nach dem ersten Abstieg aus der Bundesliga: Der damalige Betreuer Charly Neumann hält zwei Schalker Fans in den Armen, von denen einer sehr laut und sehr verzweifelt weint. So weint nur einer, dessen Gefühlsleben in Scherben liegt. Neumann, damals eine Ikone der Schalker Identität, sagt in dieser Szene immer wieder tröstend und beschwörend zugleich: "Wir steigen doch wieder auf! Wir steigen doch wieder auf!" Bilder wie dieses haben den Mythos Schalke 04 mitgeprägt.
Vermutlich ist es auch ein Zeichen der heutigen Zeit, dass gegenwärtig nicht mehr Trauer und Enttäuschung die vorherrschenden Gefühle sind, sondern Wut und Aggression. Das haben die Schalker Fußballer am heimischen Stadion in Gelsenkirchen zu spüren bekommen, als sie dort Dienstagnacht mit dem Bus aus Bielefeld eintrafen. Nach der 0:1-Niederlage bei der selbst noch abstiegsgefährdeten Arminia, die den Schalker Abstieg besiegelte, warteten ungefähr 500 Anhänger auf die Ankunft des Teams. Sie zündeten bengalische Feuer, warfen Eier und stellten die Spieler wütend zur Rede. Dabei sollen Spieler sogar direkt attackiert worden sein.
Die Polizei, mit einer Hundertschaft am Ort, sprach von "massiven Aggressionen", ein Sprecher sagte am Mittwochmorgen: "Es sind Spieler weggerannt." Auf einem wackeligen Handy-Video im Internet ist zu sehen, wie eine Silhouette von vielen Silhouetten durch die Nacht gejagt wird. Verzweifelte Schreie sind zu hören, es ist ein Horrorvideo. Der Verein schrieb dazu: "Bei allem verständlichen Frust und aller nachvollziehbaren Wut über den Abstieg wird der Verein niemals akzeptieren, wenn die körperliche Unversehrtheit seiner Spieler und Mitarbeiter gefährdet wird." Mia Thies vom Schalker Fanklub-Verband nannte die nächtlichen Vorkommnisse bei Sky "ekelhaft - ich schäme mich dafür".
Der Zustand einer Mannschaft ist immer auch Abbild der Verfassung eines ganzen Vereins
Während die Spieler nach dem Abpfiff in Bielefeld um 22.22 Uhr mit stoischen Mienen in die Kabine gegangen waren, war nur auf der Ersatzbank jemand in Tränen ausgebrochen: Timo Becker, 24, im Ruhrgebiet geboren, in der Jugend des FC Schalke 04 groß geworden. Er sagte einmal: "Schalke ist mein Verein. Ich bin hier geboren, mein Vater ist seit vielen Jahren Fan, meine Mutter ebenfalls." Bei ihm drang am späten Dienstagabend so etwas wie die unschuldige Emotionalität der Vergangenheit durch.
Und noch jemand weinte um den Niedergang seines stolzen Vereins: Gerald Asamoah, 42, einst 14 Jahre Fußballer auf Schalke und jetzt Teammanager. Schon kurz nach dem Abpfiff liefen ihm die Tränen herunter, auch während der Fernsehinterviews rieb er sich immer wieder die Augen. "Es geht mir nicht gut", sagte er mit brüchiger Stimme. Die verwundete Schalker Seele spiegelte sich in seinem Gesicht. Hätten Becker und Asamoah in Bielefeld nicht geweint, man hätte sich fragen müssen, wer eigentlich um diesen Verein trauert. "Ich kann mir vorstellen, wie jetzt viele zu Hause vor dem Fernseher weinen", sagte Asamoah. Aber er sagte auch: "Haben eigentlich alle Spieler verstanden, für welchen Verein sie hier spielen?"
So früh, so klar, so emotionslos ist Schalke noch nie abgestiegen. 1981 geschah es am vorletzten Spieltag, 1983 erst in der Relegation und 1988 wieder am vorletzten Spieltag. Jetzt sind noch vier Partien zu spielen, aber die Resignation hatte diese 13-Punkte-Mannschaft schon vor Wochen gepackt und eingeschnürt.
Der Zustand einer Mannschaft ist allerdings immer auch Abbild der Verfassung des ganzen Vereins. Bei Schalke wirkte es so, als sollte ein Orchester ein triumphales Konzert aufführen in einem maroden Konzerthaus, das zerfällt und in das es hineinregnet. Überall zwischen den Stühlen dieser Musiker stehen Eimer, die das Wasser auffangen, es ist kalt und feucht - keine Wohlfühlatmosphäre. "Ich hätte trotzdem erwartet, dass die Spieler mal ihr Herz in die Hand nehmen", sagte Asamoah. "Diese Truppe ist blutleer", sagte der frühere Schalker Olaf Thon. Auch die Wut der Fans kaprizierte sich Dienstagnacht auf die Spieler.
Unklar erscheint, ob Dimitrios Grammozis Trainer bleibt
Und niemand hat diesmal getröstet und gesagt: "Wir steigen doch wieder auf." Charly Neumann ist seit mehr als zwölf Jahren tot, es gibt auf Schalke keine vermittelnden und versöhnenden Kräfte mehr. Niemand weiß, was aus diesem Verein wird und wann die Fans zurückkehren dürfen. Niemand weiß, wie die Mannschaft in der kommenden Saison aussieht und welches Zweitliga-Level man angesichts von 217 Millionen Euro Schulden überhaupt finanzieren kann. Niemand weiß, welche Stimmung jetzt in diesem Verein vorherrscht: Versöhnung und Aufbruch - oder Wut und Zerstörung?
Auch am Mittwochmittag tauchten beim Training der Mannschaft noch einmal suspekte Fans auf - und deswegen auch die Polizei. Schalke wirkt momentan hochentzündlich, mehr noch als im Laufe dieser ohnehin durchgehend unruhigen Saison. Die Emotionen dieses Vereins mit seinen 155 000 Mitgliedern werden im Erfolgsfall als großer Vorteil genannt, schlagen im Misserfolg aber auch schneller um als anderswo. Das Vereinsgelände stand am Mittwoch noch länger unter Polizeischutz.
Schockiert von den aktuellen Ereignissen arbeitet der Vorstand derweil an den Planungen für die Zweitliga-Saison. Unklar erscheint, ob Dimitrios Grammozis Trainer bleibt. Die Mannschaft wird sich sicher gravierend verändern, und Grammozis hat für die Zusammenstellung des Kaders zu allererst folgenden Gedanken: "Man muss Jungs für diesen Verein gewinnen, die das Wappen würdig tragen."
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